Untersuchungen zur Rolle des Kleinhirns bei
Sprachprozessen
1.2.5. Sprache
Einen für
diese Arbeit wichtigen Beitrag lieferte Wallesch, 2003, zur Frage von Sprachstörungen bei
Erkrankungen des Kleinhirns. Diese Befunde seien punktuell aufgelistet:
1. Aggramatismus (Silveri et. al. 1994, aus Wallesch).
2. Defizite der Wortflüssigkeit
(Produktion von Wörtern pro Zeiteinheit) nach phonologischen Vorgaben; Anm.:
dabei wird etwa gefordert, möglichst viele Wörter mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben
zu nennen oder Wörter zu produzieren, die in der Mitte eines Wortes einen
bestimmten Buchstaben zum Beispiel „d“ haben; Beispiel: Räder (Anmerkung des
Autors dieser Schrift). Ähnliche Symptome treten auch bei Läsionen
des Frontalkortex und der Basalganglien auf.
3. Beteiligung des Kleinhirns an der
Kontrolle und Verarbeitung zeitlicher Strukturen sowohl bei der
Sprachverarbeitung als auch bei anderen Handlungen und bei der Wahrnehmung.
Weitere Untersuchungen
durch andere Autoren bei Kleinhirnkranken zeigen auf, dass diese
Probandengruppe Sprachlaute schwer unterscheiden können: immer dann, wenn eine
gehörte Silbe, in der die Dauer eines Intervalls (mit weniger als einer zehntel
Sekunde) präzise erkannt muss, bekommen solche Menschen Schwierigkeiten.
Beispiel: im Wort „Boten“ dauert die Pause nach dem „o“ etwas länger als bei
„Boden“. Spielt man Gesunden eine Aufnahme des Wortes „Boden“ vor und verlagert
diese Pause (elektronisch) um ein bestimmtes winziges Maß, hören sie
stattdessen „Boten“. Kleinhirnkranke vermögen die beiden Wörter allein aus
dieser Pause von vornherein nicht zu unterscheiden.
Nach Fiez 1990 aus Bower & Parsons, 2003, machen
Kleinhirnpatienten bei sprachlichen Aufgaben, die Verben betreffen, Fehler: Sie
brauchen auffallend lang, um etwa zum Bild eines Rasierapparates das passende
Verb zu finden; schneller sind sie bei der Suche eines passenden Adjektivs.
Vergleicht
man die Jahreszahlen der Publikationen zum Kleinhirn, dann ist das Interesse an
diesem Organ in den letzten 15 Jahren enorm gestiegen, wenn man die Frequenz
der Publikationen als Maßstab nimmt. In seinem beinahe geometrischen bzw. kristallin
regelmäßigen Aufbau (Bower & Persons,
2003) verbunden mit der Verpackungsdichte (z. B. pro Kubikmillimeter 6 Millionen
Körnerzellen; vor kurzer Zeit wurden noch 2, 7 Millionen genannt) weicht es
strukturell von anderen Hirnorganen ab
Das gleiche gilt für die kaum vorstellbare Leitungsdichte der
Parallelfasern: pro Quadratmillimeter - 6 Millionen! Mit mehr als 100
Milliarden (1010) Zellen (neben den Körnerzellen noch die Golgizellen, die
Korb- und Sternzellen sowie die Purkinjezellen mit je
150000 bis 200000 Synapsen) übertrifft es den Kortex
bzw. die Großhirnrinde um das Doppelte (auch diese Zahl wurde in den letzten
Jahren stets nach oben korrigiert (50*109) , siehe Roth, 2003, S. 31).
Es besteht
natürlich kein Zweifel, dass das Kleinhirn in vielfältiger Weise in motorische
Prozesse eingegliedert ist. Wie die bereits referierten Befunde vermuten lassen,
dürfte dies jedoch nicht die einzige Aufgabe sein. Die Frage ist, wie weit sich
seine Aufgaben tatsächlich erstrecken und wie es diese Funktion erfüllt. Der
ungewöhnlich regelmäßige Aufbau und die Verschaltungen der Neuronen folgen
einer strengen Geometrie, die an elektrische Schaltkreise erinnert.
Dies erlaubt
dem Körper, schnelle und koordinierte Bewegungsabläufe durchzuführen und befähigt
- wahrscheinlich - aber auch zu bestimmten Wahrnehmungsleistungen, etwa der
Spracherkennung. Versuche dazu bestätigen ein Modell der Arbeitsgruppe um Heck & Sultan, 2001, nach dem
zusammen passende Signale das Kleinhirn wie eine Flutwelle durchströmen. Es ist
hier nicht der Platz, die damit zusammenhängenden Details darzustellen; es sei
auf die hier soeben genannten Autoren und auf Bower & Parsons, 2003, hingewiesen, die
jeweils die Einzelheiten auf der zellulären Ebene in ausgezeichneter Weise
abhandeln; hier geht es um Details einer neuen Sichtweise des Kleinhirns.
Wesentlich
ist das Prinzip der Arbeitsweise: Völlig im Gegensatz zum Kleinhirn findet sich
in der Großhirnrinde - mit wenigen Ausnahmen - weder eine bevorzugte Richtung
der Fasern noch eine geometrische Trennung von erregenden und hemmenden Fasern
(Heck & Sultan, 2001). Ein
wesentliches Merkmal dieses Netzwerkes im Großhirn sind
ja gerade die Rückkopplungsschleifen über wie zufällig verschaltete Gruppen von
Neuronen. Das Großhirn kann sich quasi selbst erregen, es muss nicht von außen „angestoßen“
werden. Dieses (kybernetische) „Hochschaukeln“ kommt in der Kleinhirnrinde
nicht vor. Die Erregungen erzeugen allein die Körnerzellen durch ihre Synapsen auf den Parallelfasern, mit denen die Purkinjezellen synaptisch
verbunden sind. Die anderen Zellen (Golgi-, Stern-
und Korbzellen) liefern Signale im Sinne eines modulierenden Einflusses auf das
Erregungsgeschehen. Da das Kleinhirn eine Erregung weder selbständig erzeugen
noch erhalten kann, ist es völlig auf andere Hirnteile angewiesen, um aktiviert
zu werden; es reagiert nur auf
Fremdsignale - und die kommen nicht nur aus dem motorischen Bereichen - siehe
oben! Ergänzend sei erwähnt, dass jede eintreffende Information in einem sehr
begrenzten Umfeld bearbeitet wird (dies liegt an der Kürze der Parallelfasern
von 2 bis 3 mm). Bezüglich der Erregungstheorie bzw. der Signalübertragung („Flutwellen“)
muss auf die genannten Autoren verwiesen werden.
Es waren
wieder die bildgebenden Verfahren und auch
elektrische Ableitungen, die das - in unserem Fall wichtige - unversehrte
Kleinhirn untersuchten, wobei festgestellt werden konnte, dass das Kleinhirn
bei noch mehr Aufgaben involviert ist, als dies früher angenommen wurde.
Fox, 1989 (aus Heck
& Sultan,), untersuchte tomographisch die Reaktion
des Kleinhirns bei sprachlichen Assoziationsaufgaben: Die Probanden sollten
Objekte auf Bildern benennen (z.B. Hund). Das Kleinhirn war - bedingt durch das
Sprechen - erwartungsgemäß aktiviert. Dann sollten die Probanden ein passendes
Verb finden (z.B. bellen). Dabei zeigte sich, dass beim Nennen des Zeitwortes höhere Aktivierungsgrade zu beobachten
waren als beim Substantiv. Da die Anforderungen an die Motorik für das Sprechen
bei beiden Aufgaben gleich groß waren, muss die Mehraktivität durch zusätzliche
Assoziationsleistungen zu Stande kommen. Viele Zeitwörter sind mit
Handlungssequenzen verbunden, also letzten Endes mit motorischen. Es ist aber
hervorzuheben, dass eine vorgestellte Tätigkeit, also ein psychologischer
Prozess, diese erhöhte Aktivierung zum Ruhepotenzial bewirkte! Diese und andere
verblüffende Befunde führten zu weiteren Studien über die Beteiligung des
Kleinhirns an höheren geistigen Leistungen. Mehrfach wurde bestätigt, dass das
Kleinhirn bisher unterschätzt wurde. Die Kritik solche Untersuchungen bestand
darin, dass es schwer ist, eindeutig geistige von motorischen Vorgängen zu
trennen. Die Forschergruppe um Fox begegnete dieser Kritik mit einem
Experiment, das wegen seiner intelligenten Versuchsanordnung bemerkenswert und
in seiner Aussage bezüglich der Kleinhirnfunktionen wichtig ist. Es wird
deshalb detaillierter wiedergegeben (aus Bower und Parsons, 2003):
Wann meldet sich das Kleinhirn?
Wäre das Kleinhirn
vorrangig für die Kontrolle
der Motorik, also für Bewegungen zuständig, müsste es bei reiner
Muskeltätigkeit aktiv sein. Falls es eher der sensorischen Koordination dient,
würde es beim Tasten anspringen. Um beides auseinander zu halten, wurde folgende Versuche konzipiert; die Aktivität des Kleinhirns
wurde dabei mittels Magnetresonanztomografie erfasst.
Im ersten Versuch (oben)
prüften die Autoren die rein sensorische Reaktion auf verschieden grobes
Sandpapier. Hände und Finger der sechs Teilnehmer waren dabei fixiert, mit
Sandpapier wurde leicht über ihre Fingerkuppen gestrichen. Dabei wurde eine schwache
Kleinhirnaktivität gemessen (a). Sie wurde stärker, wenn die Leute gebeten
wurden, auf die Körnigkeit von zwei Papiersorten zu achten, die sie rechts und
links fühlten (b).
Der zweite Versuch (unten) war entscheidend. Die Hände der Teilnehmer steckten in Säckchen,
in denen sie kleine Holzkugeln mit verschiedenen Formen und
Oberflächenstrukturen fühlten. Zunächst sollten die Probanden nur einzelne
Bällchen aufnehmen und wieder loslassen (c). Dann wurden sie gebeten, jedes Mal
Oberfläche und Form der beiden gegriffenen Objekte zu vergleichen. (d).
Beim reinen Anfassen und Loslassen der Kugeln, wobei hauptsächlich die Motorik gefragt war,
blieb das Kleinhirn so gut wie stumm. Doch beim
Bewerten der beiden gefühlten Objekte sprach es deutlich an. Dieses
Ergebnis passt zu anderen, die als Hauptaufgabe
des Kleinhirns eine koordinierende Funktion für Sinnesempfindungen vermuten
lassen.
Zusammenfassend
kann festgehalten werden, dass das Kleinhirn in verschiedene
Wahrnehmungsprozesse und Empfindungen involviert ist - so beim Hören, Riechen,
bei Schmerz, Hunger und Durst; diese Aussagen werden auch gestützt durch
Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren bei
gesunden Probanden.
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