Untersuchungen zur Rolle des Kleinhirns bei Sprachprozessen

 

1.3. Auf das Suche nach einer Funktionstheorie des Kleinhirns

 

Bower, einer der Autoren des lesenswerten Überblickartikels „Rätsel Kleinhirn“ (2003 in „Spektrum der Wissenschaft“) beschäftigt sich mit dieser Thematik bereits seit mehr als 20 Jahren. Er fand heraus, dass taktile Stimulationen bei seinen Versuchstieren (Ratten) in einem großen Gebiet des Kleinhirns neuronale Aktivitäten auslösten. Interessant war die Erkenntnis, dass aneinander stoßende Flecken der Kleinhirnrinde ihren Input nicht von benachbarten Körperregionen erhielten (in der Großhirnrinde spiegeln sich räumliche Beziehungen in der Anordnung der Hirnareale). Hervorzuheben ist, dass solche cerebelläre Aktivitäten vor allem bei der Berührung der Schnauze auftraten, bei den Katzen reagierte das Cerebellum vorwiegend auf die Berührung der Pfoten, bei Affen waren es die Finger. Offenbar sind die „zerstückelten“ Gehirnkarten je nach Tier so organisiert, wie die betreffenden Körperpartien beim Erkennen der Umwelt benutzt werden. Daraus entstand eine neue Hypothese zur Funktion des Kleinhirns: Das Cerebellum hat vor allem die Aufgabe, beim Erwerb oder Erfassen sensorischer Daten mitzuwirken. Um diese Hypothese bei Menschen zu überprüfen, wurde die bereits weiter oben vorgestellte Versuchsanordnung (.s. Fox, Bower & Parsons u.a ) erstellt. Die Schlussfolgerungen auf der Basis der Ergebnisse werteten die Autoren als weiteren Hinweis darauf, dass das Cerebellum tatsächlich mehr mit Sensorik befasst ist als mit reiner Motorik und besonders hoch aktiv ist, wenn es gilt, sensorische Daten aufzunehmen (die Aktivitäten des Cerebellum waren deutlich geringer, wenn rein motorische Aktivitäten (mit den gleichen Materialien) verlangt wurden – s.o.).

 

Auch andere Autoren haben die bisherige Theorie erweitert: Ivry, 1993, Entdecker des mangelhaften Zeitempfindens von Kleinhirnpatienten meint, dass sich das Cerebellum mit zeitlichen Koordinationen befasst (zeitliche Abstimmung der Muskelbewegungen, Zeitempfindungen für Sinneseindrücke für Gehörtes und Gesehenes).

 

Andere Forscher meinen, dass das Cerebellum nicht nur zu Bewegungsabläufen verhilft, sondern es macht auch die Informationsverarbeitung in Zusammenhang mit Stimmungen und Gedanken geschmeidiger (Schmahmann, 1991!). Manche Wissenschaftler glauben, dass die drastische Vergrößerung der Kleinhirnregionen in der menschlichen Evolution mit einer Entlastung der Großhirnrinde einhergehe. Bei hoher psychischer Beanspruchung könne diese einen Teil der Vorgänge auslagern, quasi zusätzliche Rechenkapazität beim Cerebellum abrufen (diese Auffassung könnte auch auf die noch zu referierenden eigenen Ergebnisse zutreffen). Kritisch wird von manchen Autoren aber auch vermerkt, wie das Cerebellum mit seiner eintönigen neuronalen Architektur all das leisten soll, was ihm - sie oben - alles zugeschrieben wird.

 

Tatsächlich dürfte - nach jetziger Auffassung - das Cerebellum nicht für spezifische Funktionen zuständig sein, sondern das Großhirn - und andere Strukturen - unterstützen, also wie ein Assistent wirken. Das passt auch zur oben genannten Hypothese (Fox) bezüglich einer sensorischen Koordination; es wäre somit nicht für ein spezifisches Verhalten zuständig. Zur Assistenzfunktion gehöre demnach, einlaufende Sinnesdaten zu überwachen, dabei wirke es fortlaufend auf eine Feinjustierung der Datengewinnung hin, so dass das Individuum die höchstmögliche Qualität an Informationen erzielt.

 

Die mehr oder weniger starke Reaktion des Cerebellums ordnet sich in die Hypothese einer Unterstützungsfunktion gut ein (im Sinne einer Kontrolle sensorischen Inputs). Dass Cerebellumpatienten Bewegungen weniger gut ausführen oder vereinfachen, ordnet sich in diese Hypothese insofern ein, da genaue Sinnesdaten nicht verfügbar sind, also die Sensorik gestört ist: Wenn das Cerebellum den sensorischen Input ungenügend kontrolliert und deswegen immer fehlerhafte Daten liefert, könnte es nach dieser Theorie sein, dass dies anhaltende Funktionsstörungen  anderer Hirnregionen nach sich zieht.

 

Zusammenfassend meinen die Autoren dieser Hypothese, dass das Cerebellum bei den zahlreichen ihm zugeschriebenen Aufgaben eher aus dem Hintergrund mitwirkt; sie lassen diese Annahme noch offen. Sicher ist aber, dass die bisherigen Konzepte zur Kleinhirnfunktion nicht passen. „Das Kleinhirn zu interpretieren bedeutet zugleich, das gesamte Gehirn mit anderen Augen neu sehen“ (Bower et al., 2003, S. 67).

 

 

 


© 2006  www.fmri-easy.de