Untersuchungen zur Rolle des Kleinhirns bei
Sprachprozessen
Präambel
„Hinten im Schädel, unter den beiden Großhirnhemisphären, sitzt auf dem
Hirnstamm ein tennisballgroßer Klumpen aus grauer und weißer Substanz. Im
Gegensatz zum Großhirn, in dem die Forschung die Zentren so vieler
wichtiger geistiger Funktionen ausfindig gemacht hat, bleibt das Kleinhirn
rätselhaft; seine Bedeutung entzieht sich der Wissenschaft“ (Zitat aus „Scientific American“ aus den 50-iger Jahren des 20.
Jahrhunderts, nach Bower und Parsons,
2003).
1. Literaturresearch
1.1. Bisherige Belege
und Auffassungen zur Funktion des Kleinhirns
Analysiert
man die neurowissenschaftliche Literatur der 2. Hälfte des 20.
Jahrhunderts und auch neuere Literatur
bis 2000, dann werden vorwiegend detaillierte Funktionsbeschreibungen gegeben,
deren gemeinsamer Nenner die Steuerung der Motorik zum Inhalt haben. Einer der
ersten, der sich mit diesbezüglichen Kleinhirnfunktionen auseinandersetzte, war
Holmes, 1917 (aus Heck und Sultan, 2001); er beschrieb die
Bedeutung des Kleinhirns von - hochkomplexen – Bewegungen, wobei u.a. auch spezifisch verletzte Soldaten aus dem 1.
Weltkrieg das Klientel bildeten: Sie konnten selbst einfachste
Alltagsbewegungen nicht mehr wie gewohnt ausführen; alles wirkte ungeschickt,
vergleichbar mit unbeholfenen Kleinkindern. Die Koordination einfachster
Bewegungen gelang nicht mehr: Den Zeigefinger zur Nasenspitze zu führen, war
den Versehrten auch bei geöffneten Augen nicht möglich; desgleichen gelang
nicht das Ergreifen einer Kaffeetasse. Die Patienten litten jedoch nicht unter
Lähmungen und offensichtlich auch nicht unter psychischen Veränderungen.
Überspringt
man Jahrzehnte und analysiert nun die Darstellungen bezüglich der
Kleinhirnfunktionen in bekannten Standardwerken zu den Neurowissenschaften,
dann hat sich das Bild bis auf einige Ausnahmen nicht wesentlich verändert,
wenn man bezüglich anatomischer und physiologischer Kenntnisse, die auf die
ungeheure Komplexität dieses Organs hinweisen, absieht.
Kretschmann und Weinrich, 1991, beschreiben im
Kapitel 6.9. „Cerebelläre Systeme“ Läsionsfolgen im Archeocerebellum
und Neocerebellum:
Abb. 1: Hilfe für Lokalisierungen
(auch für spätere Abschnitte)
Zur besseren
Übersicht soll – für nicht eingeweihte Leser - eine Lokalisationshilfe
angeboten werden (aus Kolb & Wishaw, 1993, S. 3 bzw. aus Kandel,
Schwartz & Jessel, s. S. 6).
Abb.2: Kleinhirnrinde - Projektionsbahnen
(nach Kolb und Wishow, 1993)
Zu Läsionen des Paleocerebellums,
das ungefähr die gleiche Ausdehnung wie das Neocerebellum
besitzt, werden keine Ausführungen gemacht.
Auch Kolb und Wishaw,
1993, beschränken sich in ihrem – sonst wichtigen - Buch zur Neuropsychologie
auf die funktionale Bedeutung dieses Organs für motorische Prozesse: auch hier
werden cerebelläre Läsionen
als Ausgangspunkt funktioneller Beschreibungen verwendet: Diesbezügliche
Schädigungen führen zur Beeinträchtigung des Gleichgewichtes, zu
Haltungsfehlern und gestörten feinmotorischen Fertigkeiten: Gleichmäßige
Bewegungen werden durch Verletzungen und Erkrankung in abgehackt erscheinende
sequentielle Einzelschritte zerlegt. Außerdem können sie die Fähigkeit zu rasch
wechselnden Bewegungen beeinträchtigen und zielgerichtete
Bewegungen über ihr Ziel hinausschießen lassen. Auch auf den abnormen Muskeltonus wird verwiesen, so dass Bewegungsinitiierungen
schwierig werden (s. S: 9/10).
An anderer
Stelle (S.114/115) wird auch auf die erwähnten Kleinhirnareale eingegangen (s.
Abb. oben):
Zusammenfassend
sei festgehalten, dass cerebelläre Strukturen (auch, s.u.) integrale Bestandteile des motorischen Systems sind;
sie sind sowohl an der Kontrolle von Ganzkörperbewegungen als auch an den
relativ unabhängigen Bewegungen der Gliedmaßen und Finger beteiligt.
In
verständlicher Weise und klarer Strukturierung setzt sich das Standardwerk „Neurowissenschaften“,
1995 (E. Kandel, J.H. Schwartz & Th.M.
Jessell (Hrsg.))
mit diesem Hirnorgan auseinander. Es sollen hier die in diesem Werk angeführten
wesentlichsten Funktionalitäten angeführt werden:
Kandel geht in seinem späteren Werk
„Gedächtnis“ (gemeinsam mit Squire, 1999) auf die Funktion des Cerebellums
im Rahmen von expliziten Gedächtnisformen genauer ein und erweitert damit die
bisher bekannten Funktionen mit der Einbindung des Kleinhirns in das nichtdeklarative
Lerngeschehen (in diesem Fall Untersuchungen zur Rolle des Cerebellums
im Rahmen von Konditionierungsvorgängen). Für seine Arbeiten im Rahmen der Gedächtnis-forschung erhielt er 2000 den Nobelpreis für
Medizin; s. weiter unten.
Doch zunächst
noch zu den motorischen Funktionen:
Das Kleinhirn lässt sich in 3 Funktionseinheiten gliedern, von denen jede
eigene anatomische Verbindungen zum Gehirn und Rückenmark hat:
Vestibularcerebellum,
Spinocerebellum und
Cerebrocerebellum.
Die Autoren
bieten bezüglich der spezifischen Funktionen mit Hilfe der Abb. 4 (nächste
Seite) eine sehr gute Übersicht, wobei die Eingänge zum und die Ausgänge vom Cerebellum angeführt sind; eine ergänzende Übersicht zu den erwähnten Kleinhirnkernen soll den
anatomischen Überblick erleichtern (der N. emboliformis
und der N. globulus werden als N. interpositus
zusammengefasst).
Abb. 3: Lokalisierungshilfe
(aus Bock, 1999)
Mit der
„klassischen Konditionierung motorischer Reaktionen im Rahmen des nichtdeklarativen Gedächtnisses (vs. deklaratives
Gedächtnis: semantisches (Wissens-)Gedächtnis und autobiographisches
Gedächtnis) unter Beteiligung des Kleinhirns setzt sich Kandel u. Squire, 1999, im oben erwähnten Buch
ausführlich auseinander und analysiert dabei die experimentell erarbeiteten
Vorgänge in der Kleinhirnrinde und der darunter liegenden Kernbereiche – s. die
obige Abb. Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden; es soll jedoch
auf ein Ergebnis kurz hingewiesen werden (a.a.O. s.
S. 205):
Abb. 4: Funktionelle Einheiten des Kleinhirns
(aus Kandel
et. al., 1995)
Die
Untersuchungen sprechen dafür, dass die entscheidende Gedächtnisspur für die
Blinzelkonditionierung in einer kleinen Region des Cerebellums
ausgebildet und gespeichert wurde. „Es wird angenommen, dass die „klassische
Konditionierung aller derartigen motorischen Reaktionen vermutlich das
Kleinhirn erfordert. Darüber hinaus ist das Cerebellum
wichtig für das Erlernen und die Durchführung von motorischen Aufgaben, die die
Koordination komplexer Bewegungen verlangen. Daher spielt das Cerebellum bei einem Großteil motorischer Lernprozesse eine entscheidende Rolle.
Ivry, 1993, stellte eine umfassendere
Hypothese auf, nach der das Cerebellum einen
spezifischen Beitrag zur zeitlichen Abfolge, dem „Timing“, liefert, das sowohl für die motorische Kontrolle als auch
für die Wahrnehmung wichtig ist. Er fand heraus, dass Patienten mit cerebellären Läsionen bei
Aufgaben versagten, bei denen sie das zeitliche Intervall zwischen Tonpaaren
beurteilen sollten. Dabei handelt es sich nicht um ein Wahrnehmungsdefizit,
denn die Patienten hatten keine Schwierigkeiten, die relative Lautstärke zweier
Töne zu beurteilen. Vielmehr scheint das Cerebellum
eine Rolle beim Timing zu spielen, und zwar sowohl für das Timing von Wahrnehmungsereignissen
als auch von motorischen Reaktionen. Ito (ein japanischer Autor) vermutet, dass
sich die Bedeutung des Cerebellums bei der
Koordination motorischer Reaktionen auch
auf die Koordination des Denkens selbst (Hervorhebung durch den Verfasser
dieser Schrift) erstreckt. In diesem Zusammenhang ist die Blinzelkonditionierung
lediglich das bei Vertebraten am besten verstandene Beispiel eines erlernten
Verhaltens, das ein präzises Timing, die Bildung von Assoziationen zwischen
zwei Ereignissen und die allmähliche Entwicklung eines koordinierten Verhaltens
erfordert“ (S.206).
Mit diesen
Ergebnissen und daraus folgenden Annahmen wird die Funktionalität des Cerebellums deutlich erweitert. Andere Forschungsergebnisse,
vor allem auf der Basis bildgebender Verfahren,
erweitern das Repertoire dieses Hirnorgans und kommen zu weitreichenden
Schlussfolgerungen. Das Cerebellum wird als Ort prozesshafter Vorgänge definiert, die statische Sichtweise
wird verlassen.
Birbaumer und Schmidt,
1991, listen keine spezifisch getrennten Kleinhirnfunktionen auf, sondern
gliedern diese in das motorische System ein; die vernetzte Beschreibung
entspricht der Realität, ist aber hier (in Kurzform) schwer darstellbar (wie
überhaupt dieses Buch bezüglich seiner detaillierten Darstellung diverser
Hirnfunktionen bemerkenswert ist). Die Funktionsbeschreibungen werden bezüglich
der Zielmotorik (= Programm) und der Stützmotorik (= Ausführung) im
Zusammenhang mit dem Cortex und den Basalkernen abgehandelt. Einige Punkte sollen
herausgegriffen werden (Aufgaben):
Das Cerebellum diene in erster Linie dazu, die Tätigkeiten der
anderen motorischen Zentren zu unterstützen und miteinander zu koordinieren.
Insbesondere ist es zuständig
Für jede
dieser Aufgaben sind unterschiedliche Anteile des Cerebellums
zuständig – nach deren Reihenfolge der in der Mitte liegende Vermis, die sich an beiden Seiten anschließende Pars intermedia und die seitlichen Hemisphären ( s. die Abb. auf
Seite 6).
Ähnlich wie Kandel et al.
weisen die Autoren auf die Beteiligung des Cerebellums
an Lernprozessen hin: Eine Reihe von Tätigkeiten, wie zum Beispiel
Klavierspielen und andere extrem schnelle und zu koordinierende Bewegungen sind
nur unter der Mitwirkung des Cerebellums erlernbar.
Die Autoren betonen, dass das Kleinhirn und die Basalganglien
gleichrangige Zentren sind, die aber
auch an der Programmierung cortical induzierter
Bewegungsabläufe beteiligt sind. Birbaumer und Schmidt
meinen, dass das Cerebellum
– im Gegensatz zu den Basalganglien – für psychologische Funktionen weniger
bedeutsam ist. Die Steuerung und Harmonisierung von Bewegungsplanung und Bewegungsausführung
stünden im Vordergrund – eine Auffassung, die in dieser Formulierung heute nicht
mehr zu halten ist.
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